Thursday, March 24, 2016

Merkel & die EU zwischen AfD und AKP

Die Türkei als gut bezahlter rassistischer Wachhund der EU
Karikatur von Thomas Wizany (via Twitter @dilkocer 30 Nov 2015)

Solange Bundeskanzlerin Angela Merkel während der Einreise von Hunderttausenden vor Krieg, Armut, Unterdrückung und Terror fliehenden Schutzsuchenden die Fahne des "Wir schaffen das" hochgehalten hat, hatte sie bekanntlich ausnahmsweise meine Zustimmung, obwohl ich noch nie im Traum darauf gekommen bin, sie oder gar ihre Partei, die CDU, zu wählen (gleiches gilt übrigens für die in den meisten Themenfeldern ohnehin inhaltlich identische SPD). Immerhin hatte sie meinen Respekt, und unsere bis dahin eingereisten neuen Mitbürger*innen, die sich unter extremen Anstrengungen und Gefahren von den Fluchtländern über die 'Balkanroute' bis zu uns durchgeschlagen hatten, werden es ihr gedankt haben.

Doch dann hat sie sich auf europäischer Ebene von dem Druck anderer EU-Staaten (darunter restlos unverschämter Regierungen wie denen von Österreich oder Ungarn) und auf nationaler Ebene von dem immer lauter werdenden Geschrei eines rassistischen Mobs, den sich häufenden Wahlerfolgen der 'AfD', der zunehmenden medialen Hetze gegen Einwanderung (siehe zu diesem Themenfeld meinen Vorgängerpost "Alle faschistischen Deutschen (AfD)..."), dem Dauerfeuer der CSU und vielleicht auch dem Gestöne einiger Kommunen davon abbringen lassen – beschämenderweise, ohne das auch zuzugeben. Eigentlich hätte sie daraufhin zurücktreten sollen, und zwar mit den Worten: "Wir hätten das schaffen können, aber zu viele in diesem Land und auch in der EU wollen es garnicht schaffen. Ich möchte diese Mitbürger*innen und diese EU nicht länger vertreten". Dann hätte sie wirklich Rückgrat bewiesen.

Stattdessen versprach sie EU und empathielosen 'Wutbürgern', die Flüchtlingszahlen zu senken, wofür es nur zwei Möglichkeiten gibt: entweder die Fluchtgründe durch Hilfe zu reduzieren (stattdessen kürzten die EU und Deutschland die Hilfsgelder, vor allem für das Welternährungsprogramm in Syrien!), oder, das ist die jetzt gewählte Variante, Menschen mehr oder weniger gewaltsam an einer Flucht zu hindern. Und ihr fiel nichts armseligeres ein, letzteres ausgerechnet mit der Türkei 'zu schaffen'. Damit hat sie jeglichen Respekt bei mir (und nicht nur bei mir) verloren. Sie hat sich erst AfD & Co. gebeugt, und – davon ausgehend – darauf der türkischen AKP-Diktatur von Präsident Erdoğan und Ministerpräsident Davutoğlu. Und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem die politische Entwicklung in der Türkei offen in Richtung Faschismus driftet. "Erbarmungswürdig", wie Finanzminister Schäuble einmal einen rechtspopulistischen Vorschlag von SPD-Chef Gabriel genannt hat.

Wie eine Bettlerin zu Besuch beim Sultan:
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP) in seinem Palast in Istanbul bei Vorbesprechungen des nun beschlossenen EU-Türkei-Deals (Oktober 2015).
Das Photo ist selbst schon wie eine Karikatur, ein böser 'Reality Cartoon'.
Photo pa-AA (via welt.de)

Am 18. März 2016 hat Merkel beim EU-Gipfel in Brüssel nun 'geschafft', was sie monatelang 'versprochen' hatte: die CDU/CSU/SPD-Regierung von Bundeskanzlerin Merkel hat die EU dazu gebracht, einem hahnebüchenden und in seinen Konsequenzen schlicht abscheulichen 'Flüchtlingsdeal' mit der staatsterroristischen AKP-Regierung der Türkei zuzustimmen, einem Land, dem Merkel bis vor kurzem noch zu Recht mehr als distanziert gegenüber stand. Mit diesem Bündnis ist die angeblich so menschenrechtliche Position Deutschlands Makulatur und Merkel macht ihrem Ruf als "Heuchlerin des Jahres 2015" (siehe unsere 'Preisverleihungen 2015') alle Ehre.

Manche Dinge lassen sich am besten mit Hilfe von politischen Karikaturen und Montagen auf den Punkt bringen. Die Eröffnungskarikatur zeigt schon, worum es im Grunde geht: die EU stellt ausgerechnet die menschenrechtsverletzende Türkei als rassistischen Wachhund an ihren Außengrenzen an und bezahlt und belohnt sie dafür mit Milliardenbeträgen. Doch der hässliche 'Flüchtlingsdeal' hat viele Facetten:


Abschottung Europas mit Hilfe der Türkei

Merkel (CDU): "Präsident Erdoğan, wir würden uns wirklich freuen, wenn sie den Druck hierauf ein bißchen für uns erhöhen könnten."
Erdoğan (AKP): "Ich denke, ich schaffe das... ich hab' schon geübt"
Karikatur von Kal (via Twitter @kurduene 12 März 2016)

Wie oben dargestellt verlagert die EU den 'Schutz' ihrer Außengrenzen in Richtung Türkei. An der türkisch-syrischen Grenze baut die Türkei bereits eine Mauer (!, siehe Photo weiter unten) und über das Meer Flüchtende sollen nun sofort wieder zurück in die Türkei geschoben werden. Leidtragende dieses Deals sind zunächst also vor allem die Flüchtlinge, die so verzweifelt sind, dass sie sich auf den lebensgefährlichen Seeweg in Richtung Griechenland begeben. Sie sollen direkt wieder abgeschoben werden und keinen Asylantrag in der EU mehr stellen dürfen. Diese widerliche Regelung wird offiziell als 'Kampf gegen kriminelle Schlepper' verkauft und als "Rückführungsabkommen" bezeichnet. Merkel und die EU überlassen die Flüchtlinge einer türkischen Staatsführung, die schon lange keine Menschenrechte mehr kennt.

Problematisch an der Karikatur, die den Fokus durchaus zu Recht auf die Unterdrückung von Meinungsfreiheit und Opposition in der Türkei legt, ist, dass der falsche Eindruck einer Europa überrennenden 'Flüchtlingsflut' entstehen könnte. Schauen wir uns die Realität an.
Die Aufnahmezahlen von Flüchtlingen der EU und Libanons im Vergleich:

Die gesamte EU hat in etwa so viele Flüchtlinge aufgenommen wie der kleine Libanon,
dabei hat sie etwa die 100-fache Einwohner*innenzahl!
(die Zahlen sind nicht mehr ganz aktuell, aber das Verhältnis ist immer noch ähnlich).
Es gibt eine Reihe von EU-Staaten, die überhaupt keine oder fast keine Flüchtlinge aufgenommen haben.
Originaltitel: "#RefugeeCrisis- this one really says it all....."
(via Twitter @arabthomness 16 Feb 2016)

Die neue Mauer entlang der türkisch-syrischen Grenze:
"So sieht sie aus- die neue Einmauerung eines Kriegsgebietes (Syrien) auf Geheiß der Europäischen Union."
Photo & Zitat: Zentrum für politische Schönheit via Twitter @politicalbeauty 3 Feb 16


Umsiedlung & Selektion


A great gif about the 'refugee deal' (via Twitter Gilgo@agirecudi)

Besonders perfide an dem Deal ist, dass es neben der verstärkten Abschottung ganz besonders um eine Selektion der Flüchtlinge geht, wie die obige Gif-Animation wunderbar verdeutlicht. Für jeden von der EU abgewiesenen Flüchtling (das betrifft vor allem das türkische Nachbarland Griechenland, das üblicherweise als erstes EU-Land betreten wird), der in die Türkei zurück-, d. h. abgeschoben wird, nimmt die EU einen in der Türkei befindlichen Flüchtling aus Syrien 'ab'. Vordergründig führt das also nicht zu einer Reduzierung, sondern zu einem Austausch von Flüchtlingen nach dem Prinzip 1:1. Das ist schon widerlich genug, da es Flüchtlinge aus Syrien gegen die aus anderen Fluchtländern (etwa dem Irak oder aus Afghanistan) ausspielt. Aber es trifft noch nicht die Realität.

Das im 1:1-Verfahren vereinbarte Kontingent von 72.000 syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen, die Aufnahme in die EU finden sollen, dürfte schnell erschöpft sein. Nach der Abriegelung der 'Balkanroute' befinden sich bereits jetzt ca. 50.000 Flüchtlinge in Griechenland, viele von ihnen aus Syrien. Danach dürfte es schwer werden, in die EU zu kommen: die Türkei hat sich eingemauert, der Seeweg in die EU wurde für illegal erklärt und mehr und mehr Staaten werden als 'sichere Herkunftsländer' deklariert. Perspektivisch wird versucht, über die im Deal vereinbarten Mittel die Zahl der in die EU Flüchtenden gegen Null zu bringen. Für flüchtende Menschen brechen harte Zeiten an.

Mehr als zehntausend Menschen leben seit Wochen unter katastrophalen Bedingungen im Flüchtlingslager in der Nähe des griechischen Dorfes Idomeni an der geschlossenen Grenze zu Mazedonien. Diese Flüchtlinge haben die Geduld verloren und versuchten (leider vergeblich) die mazedonische Grenze zu überwinden.
#MarchOfHope
Photo: AFP (via tagesschau)

Konsequenzen für Flüchtlinge, Deutschland und die EU:

* Die EU-Außengrenze ist wieder 'dicht' (dabei wurde von der Bundesregierung immer behauptet, schutzsuchende Menschen nicht abweisen zu wollen). Der gemeinsame 'Schengen-Raum' für die privilegierten EU-Bürger*innen kann perspektivisch wieder errichtet werden, die Schlagbäume befinden sich an den EU-Außengrenzen und im Mittelmeer.

* EU-Staat Griechenland und die Türkei als 'Außenposten' spielen gemeinsam die Grenzwächter für Süd-, Mittel-, West-, Ost- und Nordeuropa.

* Damit liegt der 'Schutz' der EU-Außengrenze nicht mehr allein in den Händen der EU, sondern auch - mit allen menschenrechtsverletzenden Implikationen - in den Händen eines Nicht-EU-Staates, der Türkei. Das ist auch eine Abschiebung von Verantwortung.

* Flüchtende aus Staaten, die zu 'sicheren Herkunftsländern' erklärt wurden (etwa die Magreb-Staaten Marokko, Tunesien und Algerien, aber auch die unter schwersten Menschenrechtsverletzungen leidende Türkei (!)), können schon an der EU-Außengrenze zurück in die Türkei abgeschoben werden.

* Alle Flüchtlinge, die es auf anderen verschlungenen Wegen in die EU geschafft haben, können mit Verweis auf die Nicht-Einhaltung des offiziellen Griechenland/Türkei-Prozederes wieder zurückgeschoben werden.

Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu (AKP) kann sich nach dem EU-Türkei-Gipfel ins Fäustchen lachen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD, im Bild ganz links) wird das Lachen noch vergehen.
Photo via tagesschau 7 März 2016

Was hat die Türkei davon:

* Sie bekommt allerlei Belohnungen, von mindestens 6 Milliarden Euro Finanzhilfe (3 Mrd. jetzt, 3 Mrd. als "Anschlussfinanzierung 2018"; offiziell für die Versorgung der Flüchtlinge, aber wir kennen den korruptionsgeplagten Staat der AKP), Visaerleichterungen für türkische Bürger*innen bei der Einreise in die EU (konkret: Aufhebung des Visazwangs bis Ende Juni; eine sehr populäre Maßnahme, die der angeschlagenen AKP-Diktatur in der Türkei neue Zustimmung verschaffen wird) sowie die Aussicht auf einen Beitritt zur EU (weitere, beschleunigte Beitrittsverhandlungen; auch das eine neue Akzeptanzbeschaffungsmaßnahme für die AKP).

* Die Türkei kann sich nach und nach eines (zumindest kleineren) Teils der etwa 2,7 Millionen in ihrem Land befindlichen syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge 'entledigen'. Die EU überlegt, über das im 1:1-Verfahren 'abgenommene' kleine Kontingent hinaus ein weiteres Kontingent abzunehmen.

* Kein Hahn wird nach dem Schicksal der von der Türkei im Ausgleich aufgenommenen, von der EU abgewiesenen Flüchtlinge krähen. Sprich: die von der Türkei 'zurückgenommenen' Schutzsuchenden aus dem Magreb, aus Afghanistan oder dem Irak werden vermutlich nach und nach bei erstbester Gelegenheit des Landes verwiesen - niemand wird sich dafür interessieren.
[Hinweis vom 2. April 2016: Meine These wird leider schon kurz nach dem Niederschreiben bestätigt, denn bereits jetzt, wenige Tage vor dem offiziellen Inkrafttreten des 'Flüchtlingsdeals', mehren sich Berichte, dass die Türkei widerrechtlich Flüchtlinge nach Afghanistan und sogar nach Syrien abschiebt.]

* Das heißt zusammengefasst, dass die Türkei mit diesem Deal die Option erhält, selbst die Zahl der von ihr aufgenommenen Flüchtlinge signifikant zu reduzieren und sich das auch noch kräftig belohnen lässt.

Buchstäblich auf dem Rücken der Flüchtlinge wird der Türkei der Weg in die EU geebnet...
Karikatur von Neuigkeiten.aus.Kurdistan. (Facebook)
via Twitter @XesoKurd Febr 2016


Gewinner:
AfD & AKP

Verordnete Maulsperre bei Menschenrechtsverletzungen der Türkei
Montage via Twitter @CiwanenAzadBoh

Dieser abscheuliche 'Deal' geht einher mit einem Stillschweigen über die täglichen Menschenrechtsverletzungen, Verhaftungen und Ermordungen von Oppositionellen, gewählten Politiker*innen, Journalist*innen, Akademiker*innen und anderen Zivilist*innen (darunter viele Kinder, Frauen und Alte) in der Türkei. Mittlerweile verschweigt etwa die CDU auch garnicht mehr, dass sie die Frage der Menschenrechte dem Pakt mit der Türkei unterordnet und als nachrangig betrachtet, wie wiederholt deutlich gemacht wurde, etwa als Reaktion auf Bemühungen des Grünen-Politikers Cem Özdemir, der versucht hatte, diese Fragen zu thematisieren. Damit ist den deutschen (und europäischen) Rechten und den Interessen der türkischen AKP-Regierung gleichermaßen gedient – ein wahrhaft teuflischer Pakt zugunsten faschistischer Tendenzen.

Europa kniet vor dem Faschisten Erdoğan.
Umso wichtiger wird jetzt ein breiter Tourismus- und Warenboykott gegen die Türkei.
"Europe must stop funding terrorist Erdogan & #BoycottTurkey"
Photo & original text via Twitter @cahitstorm 9 Feb 2016


Verlierer:
Die Flüchtlinge, die Kurd*innen und die Opposition in der Türkei

Pure Verzweiflung: Zwei Flüchtlinge helfen einer erschöpften Frau bei der Durchquerung eines Flusses in der Nähe des griechischen Dorfes Idomeni in Richtung der geschlossenen EU-Grenze zu Mazedonien. Dort angekommen, werden Flüchtlinge wieder zurückgeschickt! So sieht sie aus, die Menschenrechtslage in der EU.
#MarchOfHope
Photo: AP (via tagesschau)

Merkel: "If you keep away further refugees, then I will oversee that you are trailing a dead Kurd."
Erdoğan: "Which dead Kurd?"
Merkel: "Exactly, which dead Kurd?"
Montage: KayaCahit (Facebook) via Twitter @xortekurmanj

Über die brutalen Menschenrechtsverletzungen in der staatsterroristischen, faschistischen Türkei wird nicht nur hinweggesehen, die AKP-Diktatur wird sogar 'weißgewaschen' und politisch aufgewertet.
Karikatur von Kaya Mar, via Twitter @Tari69Roni


Was tun? Was tun!

Flüchtlinge und Unterstützer*innen bei der Flussdurchquerung an der gesperrten griechisch-mazedonischen Grenze.
#MarchOfHope
Photo: AFP (via tagesschau)

Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei, der nun als Erfolg verkauft werden soll, bedeutet in der Realität also, dass die Bundesregierung und die EU sich endgültig von der Einhaltung grundlegender Menschenrechte verabschiedet und sich politisch irgendwo zwischen rassistischer AfD und islamofaschistischer AKP positioniert haben. Alle, denen Menschenrechte, Demokratie und Selbstbestimmung irgendetwas bedeuten, sind wie gewohnt auf die eigenen Initiativen zurückgeworfen. Flüchtlingsunterstützer*innen, Human Rights Aktivist*innen, Antira- und Antifa-Gruppen, die kurdische Bewegung und ihre Unterstützer*innen - sie alle haben gemeinsam einen abscheulichen Knoten zu zerschlagen: das Ineinandergreifen von innereuropäischem Rassismus, Abschottung der 'EU-Festung Europa' und AKP-Diktatur in der Türkei.

Rücktritt der Bundesregierung Merkel (CDU/CSU & SPD)!

Flüchtlinge unterstützen gegen die Festung Europa! Refugees Welcome!

Boykottiert Waren aus der Türkei! Kein Urlaub in der Türkei! Nieder mit der AKP!



Dies ist der Nachfolgeartikel zum Post "Alle faschistischen Deutschen (AfD)...", der vor allem die Situation in Deutschland thematisiert.

Weitere Posts zum Themenfeld:
Pop & Elend (Okt 2015)
#TurkeysWarOnKurds (Jan 2016)

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