REBELLION
Zur Freilassung von Nadeschda Tolokonnikowa und Marija Aljochina, inhaftierte Mitglieder der russischen Punk-Band PUSSY RIOT
Nadeschda Tolokonnikowa von der russischen Punk-Riot-Grrrl-Gruppe PUSSY RIOT
Die ästhetische, politische und gesellschaftliche Rebellion gegen zeitgenössische Ordnungen und Verhältnisse ist ein Element, das der PUNK-Kultur schon von Anbeginn an eingeschrieben war. Allerdings neigte diese Rebellion über die Jahrzehnte vor allem ästhetisch, zum Teil auch inhaltlich dazu, selbst zu erstarren und einzufrieren. Umso erstaunlicher, dass es auch heutzutage gelingen kann, mit 'punkigen' Ansätzen authentisches Unbehagen, gar revolutionäre Ungeduld und Unmittelbarkeit auszudrücken und damit längst vergessen geglaubte Zustände wie Skandal & Schock auszulösen und/oder einen Aufruhr zu starten, kurz: eine ganze Menge produktiven Ärger zu verursachen.
Das aus ungefähr zehn jungen Frauen bestehende feministische Punk-Kollektiv PUSSY RIOT aus Moskau hat in den letzten beiden Jahren mit ihren Performances, Texten, Videos und Aktionen nicht nur der eingerostet wirkenden Punk-Kultur eine Frischluftkur verpasst - sie hat mehr noch die russische Gesellschaft erschüttert und gespalten, die Verlogenheit und Machtzerstricktheit der russisch-orthodoxen Kirche und ihres Patriarchen Kyrill I. entblößt und schließlich sogar den mächtigen Langzeitpräsidenten Wladimir Putin national und international in Verlegenheit gebracht.
PUSSY RIOT
Innerhalb der immer mehr auf Schwarz und Camouflage, Leder-Jacken und -Stiefel, Kapuzenpullis und -Jacken festgefahrenen und schon lange männlich dominierten Punk-Szene wie auch in der Protest-, Pop- und Alltagskultur allgemein setzte das Riot Grrrl-Kollektiv auch ein signifikantes Fashion-Statement mit ihren markanten, aus bunten Strick- und Strumpfmasken, quietschbunten Kleidern und Strumpfhosen kombinierten, mädchenhaft-zerbrechlich wie gleichzeitig fröhlich-krawalligen Outfits.
Seit Oktober 2011 intervenierten PUSSY RIOT mit Aktionen und Performances auf öffentlichen Plätzen und im Internet kritisch in die russischen Präsidentschaftswahlen und nahmen den korrupten Macho-Präsidenten Putin ins Visier. Mit einer nicht einmal einminütigen Performance in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale am 21. Februar 2012 rebellierten PUSSY RIOT dann nachdrücklich gegen die unselige, unterdrückerische Allianz von Kirche und Staat (eine deutsche Übersetzung des Textes befindet sich weiter unten) und fügten der langen Geschichte künstlerisch-revolutionärer Interventionen von Dada über die Situationistische Internationale zu Punk (und darüber hinaus) ein neues, atemberaubendes Kapitel hinzu, das Russland für immer verändern wird.
Ihr "Punk-Gebet" definierte den state of the art des Punk im Jahre 2012:
Drei Mitglieder von PUSSY RIOT, Nadeschda Tolokonnikowa, Marija Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch, wurden anschließend verhaftet und Anklage wegen grober Verletzung der Öffentlichen Ordnung erhoben. Am 17. August 2012 wurden sie unter großen internationalen Protesten wegen „Rowdytums aus religiösem Hass“ schuldig gesprochen und zu zwei Jahren Lagerhaft (!) verurteilt. In ihrem Schlussplädoyer erklärte Jekaterina Samuzewitsch:
„Normalerweise wird erwartet, dass Angeklagte im Schlusswort Reue zeigen, die begangene Tat bedauern oder mildernde Umstände aufzählen. Bei mir und bei meinen Kolleginnen ist das absolut unnötig. […] Wieder einmal sieht Russland in den Augen der Weltgemeinschaft anders aus, als Wladimir Putin es bei seinen täglichen internationalen Begegnungen darstellen möchte. Alle von ihm versprochenen Schritte auf dem Weg zum Rechtsstaat sind ganz offenkundig nicht vollzogen worden.“
Im Berufungsverfahren wurde Jekaterinas Strafe in eine Bewährungsstrafe umgewandelt, sie wurde im Oktober 2012 entlassen, da ihr keine konkrete Tatbeteiligung nachgewiesen werden konnte. Nadeschda und Marija mussten in Straflager, u. a. in Mordwinien und Sibirien, wo sie nicht zuletzt aufgrund menschenunwürdigster Haftbedingungen zwischenzeitlich in den Hungerstreik traten.
Nadeschda Tolokonnikowa & Marija Aljochina
Marija Aljochina erklärte noch vor der Urteilsverkündung:
"Nachdem ich fast ein halbes Jahr im Untersuchungsgefängnis verbracht habe, ist mir klargeworden, dass das Gefängnis Russland im Miniaturmaßstab ist."
Die Nachricht vom Punk-Gebet von Moskau ging währenddessen wie einst der Pariser Mai 1968 um die ganze Welt. Unter der Parole "Free Pussy Riot" fanden in Russland und weltweit Solidaritätsbekundungen und Aktionen auf Straßen, vor und in Kirchen, in Konzertsälen und Parlamenten statt. Stars wie Madonna oder die Riot Grrrls von Bikini Kill erklärten sich ebenso solidarisch wie Schauspieler*innen, Künstler*innen, die russische Schönheitskönigin 2013 oder Amnesty International, die Nadeschda und Marija als politische Gefangene einstuften.
Am 23. Dezember wurden Nadeschda und Marija schließlich im Rahmen einer von Präsident Putin erlassenen Amnestie Gefangener im Vorfeld der aufgrund der katastrophalen Menschenrechtslage in Russland äußerst umstrittenen Olympischen Spiele in Sotschi kommenden Februar etwa 3 Monate vorzeitig entlassen.
Am Tag der Freilassung: Marija Aljochina (links) und Nadeschda Tolokonnikowa (rechts)
Nach ihrer Freilassung bezeichnete Nadeschda Russland als "Strafkolonie". Marija analysierte die Amnestie von ungefähr 1500 Häftlingen im Einklang mit internationalen Beobachter*innen als "PR-Gag" Putins, um Kritik an seiner menschenrechtsverletzenden Politik vor den Olympischen Spielen abzufedern und gute Stimmung zu machen, während immernoch fast 700.000 (!) Gefangene auf Grundlage häufig fragwürdiger Gerichtsverfahren und unter oft übelsten Haftbedingungen in russischen Gefängnissen inhaftiert bleiben.
Es ist offenkundig, dass der aufrührerische Einsatz und mutige Kampf gegen den russischen Nationalismus und die starke russische Rechte, gegen die korrupte russische Politik und die Heuchelei der Kirche, für das Recht auf Abtreibung und für sexuelle Selbstbestimmung, für Frauen-, LGBTQ- und Menschenrechte und die Rechte von Häftlingen und Gefangenen, für Meinungs- und Pressefreiheit in Putins Russland, den PUSSY RIOT vor zwei Jahren begonnen haben, weitergehen wird und muss. Die 25jährige Marija erklärte nach ihrer Freilassung: "Glauben Sie mir, ich habe vor nichts mehr Angst." Und die 24jährige Nadeschda rief: "Russland ohne Putin!"
Das Punk-Gebet von PUSSY RIOT bleibt also hochaktuell, der Sturz Putins und der Kampf für ein neues Russland stehen weiterhin auf der Tagesordnung. Daher tun wir gut daran, uns noch einmal an den großartigen Text und die damit verbundenen Inhalte zu erinnern, die im medialen, popkulturellen und Freilassungs-Kampagnen-Hype in den Hintergrund geraten sind und fälschlicherweise in Vergessenheit zu geraten drohen. Wiederholen wir diese wahren, treffenden und mutigen Worte solange öffentlich und laut, bis sie ihre Schuldigkeit getan haben...
Hier also zum Nachsprechen & Mitsingen, das
Punk-Gebet von PUSSY RIOT
"Mutter Gottes, du Jungfrau, vertreibe Putin!
Vertreibe Putin, vertreibe Putin! Schwarzer Priesterrock, goldene Schulterklappen -
Alle Pfarrkinder kriechen zur Verbeugung
Das Gespenst der Freiheit im Himmel
Homosexuelle werden in Ketten nach Sibirien geschickt.
Der KGB-Chef ist euer oberster Heiliger,
Er steckt die Demonstranten ins Gefängnis.
Um den Heiligsten nicht zu betrüben
Müssen Frauen gebären und lieben.
Göttlicher Dreck, Dreck, Dreck! Göttlicher Dreck, Dreck, Dreck!
Mutter Gottes, du Jungfrau, werde Feministin,
Werde Feministin, werde Feministin!
Kirchlicher Lobgesang für die verfaulten Führer -
Kreuzzug aus schwarzen Limousinen.
In die Schule kommt der Pfarrer,
Geh zum Unterricht - bring ihm Geld.
Der Patriarch glaubt an Putin.
Besser sollte er, der Hund, an Gott glauben.
Der Gürtel der Seligen Jungfrau ersetzt keine Demonstrationen -
Die Jungfrau Maria ist bei den Protesten mit uns!
Mutter Gottes, du Jungfrau, vertreibe Putin!
Vertreibe Putin, vertreibe Putin!"
[Übersetzung: dpa]
RUSSLAND OHNE PUTIN!
BOYKOTT DER OLYMPISCHEN SPIELE IN SOTCHI!
PRESSE- & MEINUNGSFREIHEIT!
FÜR DAS RECHT AUF ABTREIBUNG!
FÜR DIE SEXUELLE SELBSTBESTIMMUNG UND DIE RECHTE VON LESBEN, SCHWULEN, BI-SEXUELLEN, TRANSGENDERN, QUEERS IN RUSSLAND!
LET'S START A PUSSY RIOT!
Solidaritäts-Aktion der Kompanie "27 Dance Monkeys" auf dem Berliner Gendarmenmarkt
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Weitere Teile dieser Serie zu STYLE! IT! TAKES! # 4 (Re-Thinking PUNK!):
Re-Thinking PUNK! (Introduction)
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